DOKVILLE 2022: Insider und Filmeschaffende als Zielscheibe
Ein investigatives Filmprojekt ist immer eine „gemeinsame Reise ins Unbekannte“, erklärt Jutta Krug vom WDR. Ausgang: ungewiss. „Wir machen ja keinen Spielfilm mit Rollen, Drehbuch usw. Die Interviewpartner und Protagonisten sind im Film drin, weil sie aufgrund der Recherche in den Film gehören.“ Bei der Zusammenarbeit komme es daher entscheidend auf den Gesamtkontext an: Welche Thematik soll behandelt werden? Wer macht das? Wie seriös ist das? Was soll erzählt werden? Besitzt es gesellschaftliche Relevanz?
Plädoyer für mehr Mut und Vertrauen in die eigene Intuition
Dr. Gabriela Sperl bringt es in ihrer Keynote auf einen einfachen Nenner: „Je heftiger das Nein, desto wichtiger ist die Geschichte.“ Die Produzentin, Dramaturgin und Drehbuchautorin plädiert dafür, das Unkalkulierbare zuzulassen und mutig zu sein. Gerade die investigativ arbeitenden Filmschaffenden „schauen hin, wo sie nicht hinschauen sollen. Zerren Dinge ans Licht, die keiner wissen soll. Zeigen Wunden oder Missstände auf. Sagen einfach ‚nur‘, was ist. […] Bei ihren zunächst unerkannten Geschichten vertrauen sie auf ihre Intuition und ihre Trüffelnase. Auch ich begebe mich immer wieder in diesen Prozess hinein, bei dem man oft vor Wänden steht und denkt ‚Das geht ja alles gar nicht mehr‘. Denn jede dieser Geschichten stützt die Freiheit und die Ordnung unserer Demokratie.“
Johan von Mirbachs „#Dieselgate“
Einer, der diese Geschichten erzählt, ist Johan von Mirbach. Mehr als zwei Jahre lang hat der Regisseur für seinen Film „#Dieselgate“ über den Abgasskandal bei Volkswagen recherchiert. „Es ging ihm bei #Dieselgate nicht darum, mit bisher nie da gewesenen Fakten einen Scoop zu landen“, betont Jutta Krug, die verantwortliche Redakteurin beim WDR. „Er wollte einen großen Bogen spannen und eine Chronik der Ereignisse mithilfe eines Blicks hinter die Kulissen erzählen. Was ist das für eine Unternehmenskultur sowohl bei Volkswagen wie auch bei Bosch, die solch eine kriminelle Energie produziert und massive Betrügereien begeht?“
Informanten-Schutz und filmische Umsetzung
Zunächst fehlten von Mirbach Insider-Aussagen, die belegten, dass deutsche Automobilkonzerne und Zulieferer Verbraucher und Behörden weltweit hinters Licht geführt hatten. Doch irgendwann gelang es ihm, ehemalige Manager des VW-Konzerns zum Sprechen zu bringen. „Es war für mich schwierig in Kontakt zu kommen. Sie waren sehr vorsichtig und skeptisch, haben nach Wanzen gesucht und nach versteckten Kameras“, erklärt er. Eine Informantin ist im Film verkleidet zu sehen, andere Szenen wurden nachgestellt. „Die Texte sind alle von ihnen autorisiert, denn ich wollte nicht einfach irgendwas zusammenschreiben, was ich rausgehört hatte. Aber auch da war die erste Reaktion: ‚Das geht nicht. Ich kann doch keine O-Töne anonym autorisieren.‘ Es war ein langer Prozess und ich musste einen Weg finden, das so aufzuarbeiten, dass es auch filmisch funktioniert.“
https://vimeo.com/448483781/60c3712424
Juristische Aspekte
Jutta Krug verweist auf juristische Aspekte, die dabei ebenfalls berücksichtigt werden müssen: „Bei brisanten Produktionen hat man schon immer die Sorge, dass juristische Konsequenzen erfolgen, beispielsweise, dass durch eine einstweilige Verfügung die Ausstrahlung verhindert wird. Man muss einfach so wasserdicht wie möglich arbeiten.“
Auch dass Informat:innen unabsichtlich enttarnt werden, sei ein großes Risiko. „Was den Schutz von Whistleblowern betrifft, warten wir alle auf die Umsetzung der EU Whistleblower-Richtlinie. Ich glaube, dass da dringend Handlungsbedarf besteht“, so Krug.
Karsten vom Bruch ist Insider
Einer, der in „#Dieselgate“ nicht anonym auftritt, ist Karsten vom Bruch, den von Mirbach über Berichte in einer Stuttgarter Zeitung ausfindig machte. Der Ingenieur hatte bei dem Autozulieferer Bosch schon Jahre vor dem Skandal auf Unstimmigkeiten hingewiesen, weil er an die von Bosch proklamierten Unternehmenswerte von Nachhaltigkeit und Umweltschutz glaubte. „Karsten gehört zu diesem Typ Mensch, der die Sache über Persönliches stellt und den Leuten nichts durchgehen lässt“, sagt von Mirbach. „Man braucht eine gewisse geistige Festigkeit, um das durchzuziehen. Das zeichnet ihn und andere Whistleblower aus.“
Dem Klima der Angst trotzen
Aufgrund erfundener Vorwürfe (u. a. er habe Frauen belästigt) kündigte das Unternehmen Karsten vom Bruch 2018 fristlos; mehrere Gerichtsverfahren folgten und sind teils noch anhängig. „Ich werde ja gerne als der klassische Whistleblower hingestellt, aber das war ich eigentlich gar nicht. Ich habe nichts aufgedeckt, sondern intern die Dinge angesprochen, die bekannt waren, aber über die eben niemand geredet hat“, führt Karsten vom Bruch bei DOKVILLE aus. „Insofern war ich eher ein interner Hinweisgeber, der vor dem Rauswurf als Mitglied des Betriebsrats versucht hat, das Klima der Angst zu bekämpfen. Nur, dass die Konsequenzen, die ich dafür tragen musste, denen eines richtigen Whistleblowers in Nichts nachstehen. […] Wenn man so etwas durchlebt, geht das unglaublich an die Substanz. Die Gesetzgebung federt das nicht ab.“
Stark ausgeprägter Gerechtigkeitssinn
Doch warum hat sich Karsten vom Bruch freiwillig diesen Angriffen ausgesetzt, unter denen auch seine Angehörigen und Freunde zu leiden hatte? „In einem Interview in der BrandEins habe ich einmal gesagt, dass mein Gerechtigkeitssinn vielleicht ein genetischer Defekt ist“, erwidert er lachend. „Ich weiß nicht, woher er kommt, aber ich habe ihn halt. Die Frage, ob ich meinen Weg bereut habe, ist für mich ein wichtiger Aspekt. Natürlich habe ich nicht vorgehabt, mein Schicksal durchleiden zu müssen – auch mit Blick auf meine Eltern, meine Familie und alle anderen, die sich Sorgen gemacht haben. Ich kann aber rückblickend sagen, dass es keine wesentlichen Punkte gibt, von denen ich sagen würde, hätte ich das nur mal nicht gemacht. Diese Gewissheit ist etwas, das mich unheimlich trägt. Deshalb erzähle ich diese Geschichte, die noch lange nicht abgeschlossen ist, weiter sehr selbstbewusst.“
Vielleicht möchte ja noch jemand einen Dokumentarfilm mit mir drehen: Ich hätte noch einen Haufen Stoff! [lacht]
Karsten vom Bruch
Nicht nur Whistleblower werden zur Zielscheibe
Doch nicht nur Insider und Whistleblower gehen Risiken ein und machen sich angreifbar. Auch investigativ arbeitende Journalist:innen und Filmschaffende können zur Zielscheibe werden und setzen teils sogar Leib und Leben für ihre Arbeit aufs Spiel. Ein gutes Beispiel ist Matt Sarnecki, der mit „The Killing Of A Journalist“ nach „Killing Pavel“ (2017) zum zweiten Mal in einem Dokumentarfilm den Mord an einem Journalisten beleuchtet – dieses Mal den des slowakischen Investigativ-Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová.
Matt Sarneckis „The Killing Of A Journalist“
Sie waren unbequem geworden, als sie die kriminellen Machenschaften des Unternehmers Marián Kočner sowie die Verwicklungen aufgrund privater, politischer und krimineller Interessen bis hinein in oberste Entscheidungsebenen (Politik, Gerichte etc.) in den Blick nahmen. „Hier geht es nicht ‚nur‘ um mafiöse Strukturen. Es geht um einen ‚failed State‘. Und das mitten in der EU“, so die Botschaft des Films, der sein erst- und bisher einmaliges Screening beim kanadischen Hot Docs hatte und bei DOKVILLE noch vor der Festivaltour exklusiv in Auszügen zu sehen war.
Ein Netzwerk, um ein Netzwerk zu bekämpfen
Zusammen mit Investigativ-Journalistin Pavla Holcová und mittels forensischer Analysen von Polizeivideos, Überwachungskameras, Chats und mehr gelang es Matt Sarnecki, ein Korruptionsgeflecht aufzudecken, in das Oligarchen, Politiker, Richter und Polizeibeamte verstrickt waren. Die Nachforschungen führten schließlich zum Rücktritt des Premierministers Robert Fico. Eine Teamleistung, wie der Filmemacher ausführt: „Das waren mehrere Terrabyte Daten. Das kann niemand ganz alleine machen.“
Es braucht vielmehr ein Netzwerk, um ein Netzwerk bekämpfen zu können, wie es beim Organized Crime And Corruption Reporting Project (OCCRP) heißt. Dieses hat sich die Enthüllung von kriminellen Machenschaften speziell in Osteuropa und Russland auf die Fahnen geschrieben. Sarnecki ist dort als Senior Producer involviert und wird wie andere Mitarbeitende regelmäßig internen Schulungen und Sicherheitstrainings unterzogen. Alles halb so wild also? „Wenn meine Mutter fragt, sage ich einfach: ‚Mach dir keine Sorgen. Ich bin nur der Typ, der die Videos dreht“, erwidert Sarnecki lachend.
Andere Leute bringen sich noch viel mehr in Gefahr als ich.
Matt Sarnecki
Doppelrolle als Investigator und Berichterstatter
Beim Fall Ján Kuciak und Martina Kušnírová war Sarnecki Teil der Investigation, machte aber auch gleichzeitig die Berichterstattung in Form seines Films „The Killing Of A Journalist“. Ist man da nicht zu nah dran an der Geschichte und denen, die sie aufdecken? „Im investigativen Journalismus gibt es diesen starken Ethikkodex. Sobald sich etwas komisch anfühlt, hinterfrage ich es. Daher würde ich nicht sagen, dass das der Fall war“, antwortet Sarnecki.
TV-Premiere von „Tödliche Recherchen/The Killing Of A Journalist“ am 23. August 2022 um 23:05 Uhr bei Arte (in der Mediathek bis 20.11.2022)
Vielmehr habe der Film neben dem Schicksal des Landes auch das einzelner Personen maßgeblich beeinflusst. Ohne diese wäre man nie so weit gekommen, wie Sarnecki darlegt. „Eine von Ján Kuciaks besten Freundinnen hat sich unmittelbar nach dem Mord dazu entschieden, Investigativ-Journalistin zu werden. Sie konnte den Kontakt zu Jáns und Martinas Familie und allen, die ihnen nahestanden, herstellen. Sie hat sich von einer Freundin zu einer Journalistin und schließlich zu einer Art Assistant Producer entwickelt.“ Sarneckis größte Angst galt entsprechend nicht seinem eigenen Wohlergehen, sondern dem der Menschen, die mit ihm zusammenarbeiteten.
Sensibler Umgang mit sensiblem Material
„Ob ich die Gefahr gespürt habe? Na klar! Nach dem Mord stand beispielsweise Pavla Holcová unter Polizeischutz. Bei mir lag der Fall aber ein klein wenig anders: Als ich Zugang zu den Polizei-Files mit diesen sehr sensiblen Inhalten bekam, hatte ich am meisten Sorge, dass ich das Material oder die Investigativ-Journalist:innen kompromittieren könnte. Auf ihnen lastete ein unglaublicher Druck, auch was die Kommunikation und das Verschlüsseln der Daten anging.“
Franz Böhms „Dear Future Children“
Auch Franz Böhm, frisch ausgezeichnet mit dem Deutschen Dokumentarfilmpreis und dem Publikumspreis der SWR Landesschau-Jury für „Dear Future Children“, kann von gefährlichen Recherchen ein Lied singen. Mit seinem sehr jungen Team (Durchschnittsalter beim Dreh: 21,4 Jahre) hat er drei junge Aktivistinnen in Hongkong, Chile und Uganda dokumentarisch begleitet. Sie kämpfen für Meinungsfreiheit, Demokratie und Klimagerechtigkeit, gegen soziale Ungerechtigkeit und Korruption. Jede von ihnen sollte eine Bewegung repräsentieren, mit ihren unterschiedlichen Strategien und Herangehensweisen.
„Unser Ausgangspunkt war, dass wir mehr über den weltweiten jungen Aktivismus erfahren wollten. Ein thematisches sehr weites Feld, das uns fasziniert hat. Während der Recherchen wurden wir aber erst einmal enttäuscht: Viele Zeitungsartikel und Filme fokussierten sich entweder auf die extremsten oder die bekanntesten Stimmen. Daraufhin haben wir damit begonnen, tiefer zu graben und weltweit mit vielen Leuten zu sprechen.“
Vertrauen aufbauen und authentisch bleiben
Ziel sei schon immer gewesen, möglichst nah an der Lebensrealität zu sein und ungeschönt und realistisch zu zeigen, was Sache ist. Motto: Weniger Effekt, mehr Authentizität. „Vor Ort sind wir erst einmal auf großes Misstrauen gestoßen. Viel zu häufig waren in der Vergangenheit Filmemacher:innen aus Europa oder Nordamerika eingeflogen, die Leute nur dazu benutzt haben, schnell eine ‚catchy Story‘ zu produzieren.“ Geholfen habe ihnen, dass man komplett unabhängig aufgetreten sei und immer das Credo „Ehrlichkeit ohne Kompromisse“ transportiert habe.
https://vimeo.com/516209492
Kooperation mit Harvard zur Absicherung
Doch nicht nur das zunächst fehlende Vertrauen sollte sich als Herausforderung herausstellen. Vor allem in Hongkong erfuhren Franz Böhm und Team, mit welcher Macht sie sich angelegt hatten. Es erfolgten Drohungen – sogar gegen eigentlich unbeteiligte Familienmitglieder, die im beschaulichen Stuttgarter Hinterland leben – und zahlreiche Hacker-Angriffe. Ziel waren u. a. Kommunikations-Accounts und Bankkonten. Böhm gelang es, in einer Zusammenarbeit mit Studierenden der Harvard-University eine Infrastruktur aufzubauen, die es ermöglichte, Drohungen zurückzuverfolgen und die Server und Kommunikationswege abzusichern.
Für uns Filmemacher ist es extrem wichtig, immer einen Tick besser vorbereitet und technologisch einen Schritt weiter zu sein als die Angreifer.
Franz Böhm
Eine Kooperation, die man ihm zufolge Zukunft noch weiter ausbauen möchte. Es gehe dabei nicht nur ums eigene Team, sondern auch um die Absicherung aller Beteiligten, die am Projekt mitwirkten.
Und plötzlich sterben Menschen
Cyber Security ist das eine. Angriffe im echten Leben sind aber noch eine ganz andere Nummer. „Einmal standen wir direkt neben fünf Leuten, die getötet wurden. Darauf kann einen kein Training und auch sonst nichts vorbereiten“, erzählt der mittlerweile in London ansässige Filmemacher, der vor dem Dreh in England einem Sicherheitskurs absolviert hatte. „Man lernt dort beispielsweise, wie man Ganzkörper-Schutzausrüstung trägt und wie man mit anderen Journalist:innen und Teammitgliedern während des Einsatzes sicher kommuniziert.“
Hilfreich sei auch, wenn man sich mit seinen Kolleg:innen blind versteht: „Mit meinem DOP Friedemann Leis habe ich schon zahlreiche Male in der Vergangenheit zusammengearbeitet. Wir kennen uns extrem gut und können uns aufeinander verlassen“, so Böhm. Von Drohgebärden lässt sich der Preisträger des Deutschen Dokumentarfilmpreises indes nicht abschrecken. Sein neues Projekt, ein investigativer Spielfilm über den Umgang Chinas mit den Uiguren, ist schon im Entstehen begriffen.