DOKVILLE 2024: Interview „Mythos wertfreie Dokumentation“ von Steffen Grimberg (KNA)
Steffen Grimberg, Leitung KNA-Mediendienst, hat mit dem Geschäftsführer des Hauses des Dokumentarfilms, Eric Friedler, über DOKVILLE 2024 mit dem Schwerpunktthema KRIEG UND DES:INFORMATION gesprochen. Im Interview „Mythos wertfreie Dokumentation“ diskutieren sie über Medienverantwortung in Zeiten globaler Konflikte und die Relevanz des dokumentarischen Autorenfilms.
Eric Friedler, HDF-Geschäftsführer, über DOKVILLE 2024: KRIEG UND DES:INFORMATION
Stuttgart/Berlin (KNA): In dieser Woche läuft in Stuttgart wieder der Branchentreff DOKVILLE. Das Hochamt für Doku und Dokumentarfilm widmet sich mit einer Mischung aus Showcases, spannenden Panels und weiterem Fachprogramm der Lage der Branche, die in diesen Zeiten besonders gefordert ist. Eric Friedler, selbst Dokumentarfilmer, mehrfacher Grimme-Preisträger und seit Anfang des Jahres Leiter des Haus des Dokumentarfilms, über Höhepunkte und Herausforderungen der DOKVILLE 2024. Parallel dazu findet in Stuttgart vom 18. bis 22. Juni auch das SWR-Dokufestival statt.
KNA-Mediendienst: Herr Friedler, der Doku-Branchentreff DOKVILLE steht in diesem Jahr unter dem Titel „Krieg und Des:information“. Das ist kein ganz kleines Thema. Wie brechen Sie das für die Veranstaltung am Donnerstag und Freitag herunter?Eric Friedler: Seit 2022 beschäftigt uns der Krieg gegen die Ukraine, seit Oktober 2023 gibt es keine Nachrichtensendung, in der nicht über den Konflikt in Gaza und im Nahen Osten berichtet wird. Das ist richtig so, aber es gibt auch Krisen, die gerade nicht im Fokus sind, uns aber genauso angehen, etwa die Konflikte in Syrien, Jemen oder Bergkarabach. Die Medien bestimmen, welche News eine ist, welche Katastrophe diejenige ist, über die berichtet wird. Es liegt an uns – dem Publikum, den Usern – ob wir uns mit den Krisen und Konflikten beschäftigen, die, so weit weg sie sich auch abspielen mögen, auch immer eine Rückwirkung auf uns und unsere Gesellschaften haben.KNA-Mediendienst: Das gilt aktuell besonders für den Krieg in Gaza.Eric Friedler: Das Thema Nahost ist seit dem 7. Oktober im öffentlichen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Es polarisiert, ja, spaltet sogar wie schon lange keine politische Debatte mehr. Wir beobachten, wie es mehr und mehr propagandistischen Forderungen unterliegt. Bis hin zur Hetze und Verhetzung. Dass dies beim Branchentreff ein Schwerpunkt sein soll, haben wir bewusst bereits vor Monaten entschieden. Wir haben sachkundige Gäste eingeladen, die faktenorientiert und meinungsfreudig die Komplikationen, die historischen wie die gegenwärtigen, aufschlüsseln und darstellen werden. Nur so lässt sich, glaube ich, ein differenziertes Bild dieses Konflikts erarbeiten.KNA-Mediendienst: Bislang standen bei DOKVILLE oft branchenspezifische oder handwerkliche Themen im Vordergrund. Dieses Jahr ist das Thema hochpolitisch. Erwartet uns auch eine ganz andere DOKVILLE?Eric Friedler: Nein, nicht unbedingt ganz anders. DOKVILLE war in den letzten Jahren immer nah am gesellschaftlichen Diskurs. 2022 war Thema: „Dokumentarfilm und Investigation“, 2023 hatten wir „Dokumentarfilm und Diversität“. Selbst dann, so meine Rückschau auf vergangene DOKVILLE-Ausgaben, wenn branchenspezifische oder handwerkliche Themen diskutiert wurden, war jede DOKVILLE immer auch politisch. Vielleicht nicht so offensichtlich wie in diesem Jahr, aber Medien und gesellschaftspolitische Aspekte, die sich ja nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen, spielten beim Branchentreff immer eine zentrale Rolle.KNA-Mediendienst: Womit Sie dieses Jahr vor ganz besonderen Herausforderungen stehen. Gerade der Krieg in Nahost spaltet ja, wie Sie schon gesagt haben, wie kaum ein anderes Thema.Eric Friedler: Die Themen Nahostkonflikt und Ukraine und die damit zusammenhängenden Komplizierungen akzentuieren diesen Rahmen anders. Wir stehen doch alle in der Verantwortung, unsere Formate, unschönes Wort, aber so sagt man in der Branche, zu entwickeln, auch, um uns selbst und ebenso das Publikum herauszufordern und so zu fördern.KNA-Mediendienst: „Jede Kriegspartei verfolgt eigene Interessen und offeriert eigene Narrative, versucht ihre Darstellung als die allein gültige durchzusetzen“, schreiben Sie im Programmheft. Unabhängig überprüfen lassen sich solche „Fakten“ in der Regel nicht. Ein Dilemma für Dokumentaristen?Eric Friedler: Gewiss ist das ein Dilemma. Eine stetige Herausforderung, das investigative journalistische Handwerkszeug selbst kritisch zu hinterfragen. Ich habe aber bislang den Eindruck, dass, soweit es Dokumentarfilme selbst angeht, immer noch erkennbar ist, wo ein falsches, ein propagandistisches Narrativ gesetzt ist, gar ein KI-gezaubertes, und wo ein neutrales demokratisches, filmisch gewebtes und gespanntes Netzwerk aus Beobachtetem und gründlicher Hintergrundrecherche die Erzählung bestimmt.KNA-Mediendienst: In der aktuellen Debatte geht es auch um Haltung und Parteilichkeit. DOKVILLE fragt: Ist der Mythos einer wertfreien Dokumentation endgültig ad absurdum geführt? Rechnen Sie mit einer befriedigenden Antwort?Eric Friedler: Ich hoffe darauf. Damit zu rechnen, wäre verwegen oder gar naiv. Aber die Frage ist, auszuloten auf eine oder mehrere brauchbare Antworten hin. Denn wir befinden uns, ob wir wollen oder nicht, in einem Wettbewerb von Fake News und tatsächlichen News. Die Unmittelbarkeit von Bildern, ihre vermeintliche Authentizität, flutet die öffentliche Wahrnehmung mit vorgetäuschten Wirklichkeiten.KNA-Mediendienst: Kommen wir mal kurz zu einem ganz anderen Thema, das in der Branche aber große Bedeutung hat. Profitieren Doku-Stoffe von der Digitalisierung? Der „Long Tail“ in Mediatheken usw. wird ja immer wichtiger, viele Dokus erreichen so deutlich mehr Nutzerinnen und Nutzer als in den linearen Programmen. Eric Friedler: Ja, die Digitalisierung hilft. Und auch die Mediatheken, die Dokumentarfilme länger verfügbar halten. Das ist ja auch eine Kernüberlegung, die die Programmdirektorin der ARD, Christine Strobl, formuliert hat.KNA-Mediendienst: Und mit der sich ein großes Panel am Freitag beschäftigen wird. Was macht für Sie den Höhepunkt von DOKVILLE 2024 aus?Eric Friedler: Es ist unfair, ein einzelnes Thema gegen andere auszuspielen. Diese DOKVILLE-Ausgabe zeichnet eine besondere programmatische Vielfalt aus. Schauen Sie nur auf unsere Gäste: Neben der Kunstministerin von Baden-Württemberg, Petra Olschowski, und der ARD-Programmdirektorin Christine Strobl, dem Leiter des Medienressorts der „FAZ“, Michael Hanfeld, und dem außenpolitischen Korrespondenten der ZEIT Michael Thumann kommen auch die Journalistin Sineb El Masrar, der Spiegel-Autor Richard C. Schneider, der Psychologe Ahmad Mansour, die Kommunikationsstrategin des Auswärtigen Amts Swantje Kortemeyer und der Geschäftsführer der Film- und Medienstiftung NRW Walid Nakschbandi. Ferner sprechen auf dem Podium die Produzentinnen Sandra Maischberger und Antje Boehmert, die Regisseure Mstyslav Chernov, Andres Veiel, Eugene Jarecki, Kim Frank und Dominik Wessely.KNA-Mediendienst: Darf bei DOKVILLE, bei aller Digitalisierung und der Bedeutung der Mediatheken, noch über zu späte Sendeplätze im klassischen Fernsehen gemeckert/diskutiert werden oder ist das eine Debatte von gestern?
Eric Friedler: Meckern kann man immer. Meckern ist nie von gestern, sondern nach wie vor auch von heute. Die Frage ist, ob bloßes Meckern hilft? Besser ist, die Stellschrauben eines Programms zu überprüfen, dessen Statik sich anzusehen – und gegebenenfalls neu zu justieren. Mir scheint das ein „work in progress“ zu sein – und derzeit sehr lebendig.