Annekatrin Hendel: filmische Lebensstationen
»Ich habe nie Filme gesehen, die etwas mit dem zu tun hatten, wie ich die DDR wahrgenommen habe. Und dann war ich halt so arrogant und naiv und dachte mir, dass, wenn es solche Filme nicht gibt und niemand, nicht einmal meine Kollegen, die noch bei der Defa gelernt haben, sie machen, dann muss ich’s wohl tun.«
Die DDR aus Hendels Perspektive
Annekatrin Hendel will den Wechsel des Blicks provozieren. Vor allem hinsichtlich der Darstellung der DDR. Sie betrachtet Stoffe immer von heute und verknüpft sie mit frischen Elementen. Sie ist in Ostberlin aufgewachsen und hatte mit ihrer frechen und kritischen Haltung dort durchaus Probleme. Sie flog von der Schule. Damit war die Filmhochschule gestorben. Die Käseglocke DDR habe sie eingeschlossen, aber auch unglaublich geschützt. Sie sieht dort Qualitäten von Wärme und Geborgenheit. Man konnte sich einrichten und hatte keine ökonomischen Existenzsorgen wie im Westen. Diese Ambivalenz fehlte ihr in der historischen Darstellung Ostdeutschlands und deshalb begann sie nach ihrer Arbeit als Kostüm- und Szenenbildnerin Ende der 1990er Jahre selbst Filme zu machen. 2004 gründete sie ihre Produktionsfirma »It Works! Medien GmbH«, mit der sie ihre eignen Filme und die von Anderen realisiert.
Annekatrin Hendel und ihre Trilogie des Verrats
Bekannt wurde sie vor allem durch ihre sogenannte Verrats-Triologie »Vaterlandsverräter« (2011) über den Schriftsteller Paul Gratzik, der ebenso wie Sascha »Anderson« (2014) für die Stasi arbeitete und »Familie Brasch« (2018), die Geschichte einer Funktionärsfamilie. Alle diese Protagonisten eint eine Gebrochenheit, denn sie waren schillernde Figuren des Kulturbetriebes und der Subkultur. Gerade diese Widersprüchlichkeit der Biografien reizte Hendel – selbst wenn sie damit vom Publikum zum Teil heftig angefeindet wurde – deren Geschichte nicht in üblichen Schwarz-Weiß-Schablonen zu erzählen. Widersprüche sollen sichtbar werden. Hendel erzählt in Räumen, baut in »Anderson« für das Interview die Küche nach, die damals ein legendärer Kultursalon war. Schließlich stellt sich immer die Frage, wie man selbst in einer solchen Situation gehandelt hätte, ob man sich angepasst hätte oder nicht.
Zurück in die Vergangenheit: »Familie Brasch«
In »Familie Brasch« schlägt sie einen großen Bogen von den 1930er Jahren bis heute. Es ist eine Familiengeschichte, die den Manns alle Ehre machen würde. Der jüdische Vater konvertiert zum bayerischen Katholizismus geht ins Exil nach London, lernt dort seine jüdische Frau aus Wien kennen. Die beiden überzeugten Kommunisten wollen nach dem Krieg die DDR aufbauen. Er steigt als Funktionär zum stellvertretenden Kulturminister auf. Doch das Verhältnis zu seinen Kindern, die alle künstlerisch tätig sind, ist ein schwieriges. Sie stellen sich gegen das System, das den Sozialismus pervertiere.
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»Anderson« und »Vaterlandsverräter«
Sascha »Anderson« war ein regelrechter Popstar der ostdeutschen Kulturszene mit besonderer Ausstrahlung, der König des Prenzlauer Bergs. Keiner hätte gedacht, dass gerade er für die Stasi spitzelte. Hendel bringt Täter und Opfer noch mal an einen Tisch und zeigt die Verstrickungen der Beziehungen auf. Doch eine solch differenzierte Betrachtungsweise provoziert: bei der Weltpremiere auf der Berlinale 2014 gab es lautstarke Proteste. Auch ihre Protagonisten können sich querstellen. Gleich zu Beginn von »Vaterlandsverräter« wird sie vom cholerischen Paul Gratzik angebrüllt, als sie ihn nach seiner Spitzeltätigkeit befragt. Er hatte Anfang der 1980er Jahre seine Spitzeltätigkeit selbst offenbart, ein wirklich ungewöhnlicher Schritt. Mit Hartnäckigkeit versucht Hendel ihm die Geheimnisse zu entlocken, aller Sturheit und Zerrissenheit zum Trotz.
Annekatrin Hendels Dokumentarfilm »Fassbinder«
Mit »Fassbinder« (2015) würdigt sie den legendären Filmemacher und das Enfant terrible des deutschen Films in eigenen Aussagen und Interviewpassagen sowie Stellungnahmen seiner Wegbegleiter. Ausschnitte aus seinen Filmen – geschickt ausgewählt und meisterhaft komponiert von Jörg Hauschild, mit dem sie oft zusammenarbeitet – dienen der Untermauerung der These von Fassbinder selbst, sein Leben seien seine Filme. Ein gezeichnetes Storyboard aus seiner Internatszeit wird durch Animation zum Leben erweckt. Informativ, aber kaum neue Erkenntnisse lautete eine Kritik.
»Fünf Sterne« als ganz persönlicher Dokumentarfilm
Der sicher persönlichste Dokumentarfilm von Annekatrin Hendel ist »Fünf Sterne« (2017). Gerade hatte sie ein Stipendium für einen Aufenthalt in einem Luxushotel an der Ostsee erhalten. Als sie erfährt, dass ihre beste Freundin todkrank ist und nur noch wenige Wochen zu leben hat, nimmt sie sie mit. Sie dreht einen Film über ihre Freundin und das gemeinsame Leben, das sie durchlebt haben. Ihr aktuellster Film »Schönheit und Vergänglichkeit« lief in diesem Jahr im Panorama der Berlinale. Sven Marquardt ist Türsteher des Technoclubs Berghain, aber auch Fotograf. Schon vor dem Mauerfall porträtierte er die Ostberliner Subkultur und Punkszene in bestechenden Schwarzweiß-Bildern. Zusammen mit seinem damaligen Lieblingsmodell Dome erinnert er sich an das Lebensgefühl einer widerständigen und kreativen Jugend in der DDR. Annekatrin Hendel ist zu einer Chronistin Ostdeutschlands geworden, die gegen die Auslöschung von Geschichte und Erfahrung der DDR-Bürger anfilmt. Seit 2018 ist sie im Vorstand der Deutschen Filmakademie.
Filmografie als Regisseurin (Auswahl):
SCHÖNHEIT & VERGÄNGLICHKEIT | Kino- Dokumentarfilm 2019 | Heiner-Carow-Preis der Berlinale
FAMILIE BRASCH | Kino- Dokumentarfilm 2018 | UA: Filmfest München
FÜNF STERNE | Kino- Dokumentarfilm 2017 |Heiner-Carow-Preis der Berlinale
FASSBINDER | Kino- Dokumentarfilm 2015 | UA: IDFA
ANDERSON | Kino- Dokumentarfilm, 2013 | UA: Berlinale
VATERLANDSVERRÄTER | Kino- Dokumentarfilm 2011 | UA: Berlinale 2011, Grimmepreis, in der Vorauswahl zum Deutschen Filmpreis
FLAKE – MEIN LEBEN | Dokumentarfilm, ZDF/Arte | nominiert für den Grimme-Preis 2012 u.v.m.
Ausblick: Annekatrin Hendel zu Gast bei DOKVILLE 2019
Annekatrin Hendel – Produzentin (It Works! Medien GmbH), Autorin, Regisseurin und mehrfache Preisträgerin – führt »Im Gespräch« mit dem Filmjournalisten Knut Elstermann durch ihr Werk und ihre persönliche Lebensgeschichte.
Das Gespräch findet am Fr. 28. Juni 2019, 14 Uhr im Kino Metropol Stuttgart statt.