Keynote von Arne Birkenstock bei DOKVILLE 2021
Aufgrund mehrfacher Anfragen, wo man die Keynote von Arne Birkenstock zum zweiten DOKVILLE-Tag nachhören kann, stellen wir den Text der Rede nach Absprache mit ihm online. Der Geschäftsführer von Fruitmarket Kultur und Medien hielt die Keynote am 18. Juni 2021 online zum Thema „Neue Märkte, neue Player – Die Branche im Umbruch“.
NEUE MÄRKTE, NEUE PLAYER – DIE BRANCHE IM UMBRUCH
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Ulrike, liebe Astrid, liebes Dokville-Team,
ich bedanke mich sehr für die Einladung, hier ein paar Impulse und Gedanken zum sich rasant verändernden Markt für dokumentarische Filme und Serien mit Euch und Ihnen teilen zu dürfen!
Covid-19 war eine Vollbremsung für uns alle, schädlich für die meisten, existenzbedrohend für viele von uns. Pandemie und Lockdown wirkten aber auch wie ein Brennglas auf Entwicklungen, die lange vorher begonnen haben.
Und in dieser Hinsicht ist Covid-19 vielleicht eine Chance für uns Dokumentarfilmer, die wir uns der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit verschrieben haben. Die Chance nämlich, nicht weiter ausgerechnet jene Wirklichkeit zu ignorieren, die den Konsum und die Auswertung unserer Filme prägt:
Pandemie und Lockdown haben eine Entwicklung verschärft und verdeutlicht, die wir Dokumentarfilmer schon seit einigen Jahren schmerzhaft spüren: Einerseits steigt dank der Streamer die Nachfrage nach hochwertigen, inhaltlich komplexen und aufwändig
produzierten Dokumentarfilmen und -Serien, andererseits funktioniert die klassische Auswertungskaskade für unser Genre schon lange nicht mehr.
2019, im letzten „normalen“ Kinojahr vor Corona, starteten insgesamt 166 Dokumentarfilme regulär Donnerstags im Flächenstart im Kino. Fünf dieser Filme erreichten bundesweit im Kino mehr als 50.000 Zuschauer, immerhin 19 Filme knackten die FFA-Referenzschwelle von 25.000 Zuschauern, aber: 122 dieser Filme erreichten im Kino keine 10.000 Zuschauer, die allermeisten davon – 100 Filme – bekamen im Kino nicht mehr als 3.000 Zuschauer. Bundesweit!
Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von viel zu geringen Herausbringungs- und Marketingbudgets über schlechte Spielzeiten bis hin zu wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Filmemacher dazu zwingen, auch solche Filme als Kinofilme zu finanzieren, die eigentlich gar nicht für die große Leinwand gemacht und geeignet sind. Vor allem aber spüren wir als Dokumentarfilmer die Auswirkungen der inzwischen gar nicht mehr neuen Tatsache, dass Menschen an jedem Ort, auf allen möglichen Endgeräten und zu allen möglichen Zeiten Filme gucken können und auch selbst entscheiden wollen, wann, wo und wie sie das tun. Das gilt nicht nur, aber scheinbar ganz besonders für unser Genre.
Denn auf der anderen Seite erleben wir eine große mediale Aufmerksamkeit für viele unserer Filme, proppenvolle Kino- und Theatersäle auf Festivals und bei Events mit Regie, Team, Protagonisten oder Experten und einen Boom in der non-linearen Auswertung unserer Filme etwa auf Plattformen wie Netflix oder Amazon, wo dokumentarische Formen und Formate zu den erfolgreichsten Filmen und Serien gehören. So erreichte die Doku-Serie „Tiger King“ auf Netflix zum Beispiel 64 Millionen Zuschauer innerhalb der erste vier Wochen und war damit deutlich erfolgreicher als fiktionale Plattformhits wie „The Crown“, „The Mandalorian“ oder „Queens Gambit“. Auch auf den Mediatheken der Sender scheinen viele unserer Filme mehr Menschen zu erreichen, als im linearen (Nacht-)programm von ARD und ZDF.
Trotzdem unterliegt die Finanzierung, Herstellung und Herausbringung unserer Filme einem engen rechtlichen und förderregulatorischem Korsett, dass diese seit vielen Jahren voranschreitende und auch allen Beteiligten bekannte Entwicklung weitgehend ignoriert und uns Filmemacher zu einer Herausbringung zwingt, mit der unsere Filme auf dem Zenith ihrer Wahrnehmung – nämlich rund um Premiere und Presseberichterstattung – für die meisten unserer potentiellen Zuschauer unerreichbar sind.
Zugleich drängen neue und große Player aus dem Entertainment und Fictionbereich auf unseren Markt: UFA, CONSTANTIN, BAVARIA und BANIJAY gründen oder kaufen eigene Dokumentarfilmabteilungen und sichern sich zugleich einen riesigen Fundus an Recherchen und Geschichten und den Zugang dazu per Exklusivvertrag mit großen Verlagshäusern wie dem SPIEGEL (UFA) oder der Süddeutschen Zeitung (Constantin).
Diese Unternehmen wittern nicht zu Unrecht ein Geschäft in unserem Genre: Neben den globalen Streamern wie Netflix, Amazon Prime Video, Disney und Apple kommen auch regionale Plattformen neu auf den Markt wie z.B. Magenta (Telekom) oder die Streaming-Plattformen der Privatsender von TV Now (RTL) bis Joyn (Pro Sieben). Damit wird die bis jetzt vor allem durch öffentlich-rechtliche Sender generierte Nachfrage nach dokumentarischen Filmen und Serien signifikant erweitert und erhöht.
Und der Zugang zu Stoffen wird für kleine und unabhängige Produktionsfirmen erschwert. In rasanter Geschwindigkeit sichern sich diese neue großen Player im Markt im Verbund mit den ihnen vertraglich verbundenen Zeitungshäusern exklusive IPs. Wertvolle „intellectual properties“ also, wie z.B. die Rechte an Sachbuchbestsellern oder der exklusive Zugang zu Prominenten aus Sport, Politik und Showbiz. IPs sind der neue Goldstandard dieser Branche. Wie schnell das gehen kann, zeigt ein aktuelles Beispiel aus den USA: Am 9. Dezember 2020 brachen nach enttäuschenden Geschäftszahlen die GameStop-Aktien um fast 20 Prozent ein. Zahlreiche in dezentrale Online-Handelsplattformen organisierte Privatanleger wetten gegen die etablierten Märkte und sorgen im Januar 2021 für eine Kursexplosion bei GameStop. Die GameStop-Aktie steigt bis zum 18. Januar unter starken Schwankungen um insgesamt etwa 80 Prozent. Kurz darauf gibt der Journalist und Sachbuch-Bestseller-Autor Ben Mezrich bekannt, dass er ein Sachbuch zu GameStop schreibt. Am 31. Januar 2021 sicher sich MGM die Filmrechte an diesem noch ungeschriebenen Buch und der GameStop-Geschichte.
Diese Dynamik nimmt auch hierzulande an Geschwindigkeit auf: Vor gerade mal einem Jahr, im Juni 2020, flog Wirecard auf und Jan Marsalek flüchtete mit unbekanntem Ziel. Einen Monat später gibt Nico Hoffmann ein Doku-Drama der UFA zum Skandal bekannt, SKY eine fiktionale Serie und einen Dokumentarfilm in Zusammenarbeit mit der ARD. Das DokuDrama erschien im März auf TV Now, der Dokumentarfilm auf Sky im Mai.
Wenn in dem einen Beispiel nur zwei Wochen nach einem Ereignis die Filmrechte schon verkauft sind und in dem anderen kein Jahr vergeht, bis aufwändig produzierte Dokumentarfilme oder Dokudramen dazu auf den Sender gehen, dann entstehen dabei nicht unbedingt die tiefsinnigen, über die Tagesaktualität hinausreichenden Werke, die wir alle hier lieben.
Aber natürlich bekommen wir ein Problem, wenn wir in der Logik von Einreichfristen und Fördersitzungsterminen verharren, während wir es mit Konkurrenten zu tun haben, die einen Materialsicherungsdreh aus ihrer Portokasse bezahlen und einen ganzen Film innerhalb weniger Wochen finanzieren können.
Und natürlich haben wir ein Problem, wenn nicht nur die Geschichten ganzer Verlagshäuser selbst, sondern auch und vor allem die Zugänge zu Recherchen und Protagonisten dieser Geschichten exklusiv von großen Produktionsfirmen reserviert wurden.
Andererseits: Irgendwer muss diese Filme ja machen. Die neuen Player im DokumentarfilmMarkt kommen überwiegend aus dem Entertainment-Bereich. Sie kennen sich aus mit „Bauer sucht Frau“ und „Frauentausch“, haben aber kaum oder keine Erfahrung mit Filmen, die Geschichten erzählen, die über den Tag hinaus reichen, die zum Beispiel den WirecardStoff nutzen, um ein deutsches Sittenbild zeichnen und die Entwicklung von der breitbeinigen New-Economy-Blase der 2000er bis zur digitalen Rückständigkeit in den 2020er Jahren zu beschreiben. Die nicht nur Fakten aneinanderreihen, sondern einordnen, wofür diese Fakten eigentlich stehen, die entdecken, was sie uns über Wirtschaft, Gesellschaft und Politik erzählen können und warum die Relevanz eines solchen Skandals weit über den Skandal selbst hinausreicht.
Für Autorinnen und Autoren, Regisseurinnen und Regisseure, die künstlerisches Talent und handwerkliche Exzellenz und Gespür für Storytelling mit einem gewissen Pragmatismus verbinden, beginnen gerade goldene Zeiten. Denn: Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr Menschen an immer mehr Orten und zu jeder Zeit Dokumentarfilme konsumieren. Es wäre falsch, dies als Krise oder Problem wahrzunehmen. Dieser Paradigmenwechsel ist eine Chance und wir sollten sie nutzen!
Aber was ist nun mit dem großen, mit dem Kino-Dokumentarfilm? Wir brauchen das Kino. Wir machen unsere Filme für die große Leinwand, für das kollektive und konzentrierte Filmerlebnis im großen, dunklen Saal mit der technisch bestmöglichen Projektion von Bild und Ton. Nur findet diese Auswertung zunehmend nicht mehr in Form einer regulären Kinoauswertung statt, sondern auf Festivals und Events.
Die Erfahrungen aus der Pandemie, in der wir selbst solche Events gar nicht oder nur sehr eingeschränkt durchführen konnten und mit anderen Herausbringungsformen experimentieren mussten, sollten wir nutzen: Nutzen, um Modelle zu entwickeln und auszuprobieren, von denen Filmemacher und Kinos gleichermaßen profitieren, nicht obwohl, sondern weil die Filme zeitnah auch digital geschaut werden können und somit unseren Zuschauern wieder zugänglich gemacht werden. Bei diesen Modellen, die unter Stichworten wie „C-VOD“, „Kino on demand“ oder „Kino@Home“ entwickelt wurden, wird der Coronabedingt verkleinerte Kinosaal digital wieder vergrößert und die Kinos werden auch an den Einnahmen aus dem digitalen Raum beteiligt.
Wir müssen mit neuen Herausbringungsstrategien experimentieren. Wir sollten ausprobieren und sehen, was passiert, wenn wir internationale Dokumentarfilme mit internationalem Eventstart in den Kinos und früher weltweiter Online-Verfügbarkeit herausbringen. Wir müssen dazu überhaupt nicht grundsätzlich an den Sperrfristen sägen, ich bin mir der Bedeutung dieser überlebenswichtigen Exklusivität für die Kinos sehr bewusst. Im Dokumentarfilm aber (der überwiegend nur noch wenige Wochen im Kino läuft), sollten Pilotprojekte erlaubt werden, um neue Vertriebsstrategien auszuprobieren, von denen alle Beteiligten und eben auch die Kinos profitieren könnten, was man ja von der zurzeit üblichen herkömmlichen Herausbringungsweise der meisten Dokumentarfilme wirklich nicht sagen kann.
Wir müssen für jedes Projekt nicht nur das unterschiedlich große Engagement unterschiedlicher Partner in der Lizenzaufteilung würdigen, sondern für jeden Film entscheiden, wann wo und wie er am besten ausgewertet werden kann und dies dann auch gemeinsam und partnerschaftlich tun. Für all das brauchen wir kein zusätzliches Geld. Das Geld ist da, wir müssen es anders nutzen und verteilen. Wir müssen Ausnahmen, Experimente und neue Wege der Distribution nicht nur endlich erlauben, sondern befördern. Wir müssen überhaupt mehr für die Herausbringung und Bewerbung unserer Filme tun und dafür auch mehr Ressourcen einsetzen.
Wir brauchen eine flexible und großzügige Unterstützung zur Entwicklung großer Stoffe, unabhängig davon, wo diese später ausgewertet werden. Wir müssen Möglichkeiten schaffen für die Entwicklung und Produktion künstlerisch und kommerziell erfolgreicher Dokumentarfilme und -Serien. Wir müssen größer, nachhaltiger und innovativer denken, wenn wir Filme entwickeln, produzieren und auswerten. Die Mittel dafür sind da. Kein anderer Kontinent dieser Erde hat ein besser ausgestattetes Förder- und Rundfunksystem als Europa. Wir sollten konstruktiv darüber verhandeln, wie diese Ressourcen besser, zielgenauer und zeitgemäßer eingesetzt werden können.
In einer Welt, in der Filme auf allen möglichen Plattformen und Endgeräten konsumiert werden, hängt der Hammer sehr hoch für kreative Dokumentarfilme im Kino und anderswo. Es ist dringend an der Zeit, dass wir jegliche Nabelschau beenden und uns gemeinsam den Chancen zuwenden, die die „neue“ Medienwelt und ihr unstillbarer Appetit auf audiovisuelle Inhalte für uns bereithält.
Ich glaube mit Leidenschaft an die Zukunft des Dokumentarfilms, der in Zeiten gefühlter Wahrheiten und „alternativer“ Fakten wichtiger ist denn je. Ich glaube aber auch, dass wir dazu groß denken und produzieren müssen.
Vielen herzlichen Dank!
Arne Birkenstock