DOKVILLE 2026

Demokratie unter Druck

Ist unsere Zivilgesellschaft am Ende?

Es liegt in der Natur der Sache, dass heute noch unklar ist, welches Epochen-Etikett Historikerinnen und Historiker einmal, nach ausführlicher faktenbasierter Rückschau, für unsere Gegenwart entwickeln werden. Wir, die wir in dieser Gegenwart leben, können heute lediglich unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen einsammeln und versuchen, diese zu einer halbwegs schlüssigen Erzählung über den Charakter unserer Zeit zusammenzuführen. Ein Kapitel dieser Erzählung würde, schon aus Demut vor der aktuellen Komplexität des Weltgeschehens, vorsichtig dem Gefühl Ausdruck verleihen, dass wir ein disruptives Ende von Gewissheiten erleben. Was gestern noch ein konsensual erarbeitetes Fundament menschlichen Miteinanders war, steht unvermittelt zur Disposition. So wurden zum Beispiel die mühsam erarbeiteten Prinzipien des Multilateralismus über Bord geworfen, sozusagen von jetzt auf gleich. Zwischenstaatliche Konflikte auf der Basis einer von allen Akteuren akzeptierten regelbasierten Ordnung zu lösen oder Lösungen durch gemeinsam getragene supranationale Organisationen wie UNO, NATO etc. ausarbeiten zu lassen, das war ein aus schmerzhafter Erfahrung geborenes Modell für ein staatliches Miteinander. Sicher, das Modell hat nicht immer funktioniert, hat auch immer wieder tiefe Kratzer abbekommen. Doch heute ist das Modell geschreddert von einem Geist, dessen Konturen erst langsam sichtbar werden. Aber die Sorge, dass die einst erhoffte Stärke des Rechts abgelöst wird durch das Recht des Stärkeren, ist nur zu berechtigt.

Demokratische Staaten vor nie gekannten Herausforderungen

Die von einer solchen Entwicklung ausgehende Destabilisierung nahezu aller gesellschaftlichen Bereiche stellt insbesondere demokratische Staaten vor nie gekannte Herausforderungen. So zeigen repräsentative Umfragen übereinstimmend, dass mit den oben beschriebenen Entwicklungen ein schrittweiser Vertrauensschwund in die Demokratie und ihre Institutionen einhergeht.

Blicken wir auf Deutschland, so schien es ein festgefügtes Faktum zu sein, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Holocaust eine Umkehr und einen Weg hin zur Humanität geschafft hätte, wenn auch die politischen Blickwinkel auf die Zeit nach 1945 unterschiedlich geprägt waren.

Die Bundesrepublik stellte sich als ein Beispiel gelungener Demokratisierung dar; auch die DDR reklamierte für sich einen freiheitlichen Status. Nach der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung schien dieses Postulat einer den Menschen verpflichteten Gesellschaft in demokratischer Ordnung für ganz Deutschland zu gelten.

Ein disruptives Ende der Gewissheiten

Doch die Realität hat sich verändert. Die Stabilität der demokratischen Zivilgesellschaft scheint nicht nur, sondern ist tatsächlich akut in Bedrängnis, wenn nicht gar gefährdet. Das gilt nicht nur für dieses Land. Die Erosion demokratischer Werte ist auch in den anderen – scheinbar etablierten und gefestigten – Demokratien weltweit zu beobachten. Das ist ein schleichender Prozess, denn die Legitimität demokratischer Institutionen wird infrage gestellt, deren Arbeitsfähigkeit behindert. All dies befördert durch einen Populismus, der mittels neuer Kommunikationswege zur systematischen Destabilisierung demokratischer Normen und Prinzipien massiv beiträgt. Misstrauen sät, falsche Nachrichten streut, sich geriert als ein „Retter in der Not“. Doch in welcher, wenn nicht in Teilen einer herbeigeredeten und in Teilen – das muss selbstkritisch zugestanden werden – auch tatsächlich existierenden Krisensituation? Die Glaubwürdigkeit von Regierungen, demokratisch gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten nimmt rapide ab.

Demokratische Grundwerte müssen als selbstverständlich angesehen und gelebt werden

Was folgt daraus? Nicht nur „die“ Politik, nein alle Institutionen, die sich den Prinzipien unserer Demokratie verpflichtet fühlen, müssen Antworten finden auf dieses radikale Infragestellen unserer Gesellschaftsform, unabhängig davon, ob dies außerhalb oder innerhalb Deutschlands geschieht. So muss beispielsweise die Antwort auf die Frage, warum das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit für einen demokratisch verfassten Staat essenziell ist, neu hergeleitet und vermittelt werden.

Gleiches gilt für die Grundrechte. Auch hier müssen z. B. die in Artikel 5 Grundgesetz festgeschriebenen Freiheiten, nämlich Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit, wieder so stark in unserer Gesellschaft verankert werden, dass diese sowie deren notwendige Einschränkungen (z. B. Verbot der Volksverhetzung) als selbstverständlich angesehen und gelebt werden. 

Unabhängige Medien in der Defensive

Im skizzierten Kontext tragen – nicht nur, aber in besonderer Weise – Medien ein erhebliches Maß an Verantwortung. Dem Verleger Dieter von Holtzbrinck war es erst vor wenigen Wochen wichtig, einen – eigentlich selbstverständlichen – Sachverhalt mit Nachdruck zu formulieren: „Ohne informierte, mündige Bürgerinnen und Bürger kann ein demokratisches Gemeinwesen nicht funktionieren.” Der aus dem Zitat herauszulesende Auftrag an Medien kommt leichtfüßig daher, ist aber komplexer als er es beim ersten Hinhören vermuten lässt. Es fängt mit der Frage nach dem „Wie“ an, konkret welche Medien werden genutzt, um sich zu informieren? Aus einer Vielzahl von Gründen sind einstmals starke, unabhängige Medien in die Defensive geraten. Mehr und mehr werden Informationen von Anbietern nicht mehr nach klassischen Kriterien, wie z. B. der jeweiligen Relevanz einer Information ausgewählt und verteilt. Mein von Algorithmen registriertes Nutzungsverhalten steuert das Informationsbouquet, welches mir angeboten wird, nach welchen Kriterien… die kommerziellen sind da noch die harmlosesten. Die Anstrengungen, die nicht-demokratische Kräfte unternehmen, um die Glaubwürdigkeit unabhängiger Medien zu diskreditieren sind immens und schrecken auch vor gezielter Diffamierung von Vertreterinnen und Vertretern unabhängiger Medien nicht zurück. All dies geschieht bei einem rasanten Anstieg der Komplexität von Sachverhalten, über die es zu informieren gilt. 

Wider die Nachrichtenvermeidung

Als da wären: Migration und postmigrantische Gesellschaft, soziale Ausgrenzung wider soziale Teilhabe, Ukraine-Krieg und Nahostkonflikt. Klimawandel und Energiekrise, Rechts- und Linksextremismus, koloniale Vergangenheit und Erinnerungskultur. Und wie ein Menetekel allüberall das Schlagwort „Kulturkampf“.

Aber es geht nicht nur um aktuell stattfindende Konflikte, sondern vor allem auch um die Berichterstattung über mögliche Szenarien zur Lösung derselben. Ohne Kenntnisse über die beteiligten Akteure und deren politische Hintergründe sowie deren historischen Background sind weder Konflikte, geschweige denn von der Politik diskutierte Lösungswege zu verstehen. 

Zur Erfüllung des publizistischen Auftrages von Dieter von Holtzbrinck hat sich als Referenzpunkt die Einsicht bewährt, dass Politik keine für sich alleinstehende Unternehmung ist. Kurz gesagt, es gibt keine Politik „an sich“. Politik betrifft immer Menschen, lebende und – ja auch – leidende. Politik wird mithin „für uns“ gemacht. Doch wenn sich dieses „an sich“, um einen Gedanken des Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, der auch Jurist war und ein politischer Denker, zu aufzunehmen, „von dem, für uns getrennt hat, wird alle Demokratie, alle Gemeinschaft an irgendeiner Gewalt scheitern“.

Was es also braucht, ist ein umfassendes, vom Mayer’schen Humanismus getriebenes Verständnis für die Konfliktthemen unserer Zeit. Ob ein 24/7-Nachrichtenfluss, der jedes Detail in Echtzeit transportiert, einem faktenbasierten Verständnis dient, ist zu bezweifeln. Im Gegenteil: die aktuelle Reuters-Studie 2025 weist einen höheren Anteil von Nachrichtenvermeidung aus. Und der Umstand, dass insbesondere in Krisenzeiten vermehrt Nachrichtenvermeidung auftritt, lässt den Schluss zu, dass kleinteiliges Nachrichtenstakkato besonders bei jungen Menschen als Informationslast empfunden wird.

Dokumentarfilm als Sprachrohr der Gegenwart

Vor diesem Hintergrund stellt sich auch das Haus des Dokumentarfilms den beschriebenen Herausforderungen. Selbstbstredend muss dies aus der Perspektive einer Institution geschehen, die sich als Plattform für Dokumentarfilmschaffende etabliert hat. 

Fleißige Kamerafrauen und -Männer am Werk

Aufgabe ist es, Fragen aufzuwerfen, die sich – siehe oben – aus einer Gegenwart ergeben, für die die Demokratie nicht mehr eine zu bewahrende Staatsform darstellt. 

Wie erzählen Dokumentarfilmerinnen und Dokumentarfilmer von diesen Entwicklungen? Welche Perspektive wählen sie, die der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen oder eher die der Analystinnen und Analysten? Erzählen sie, investigativ recherchiert, von den Netzwerken antidemokratischer Kräfte? Oder wählen sie die Perspektive derjenigen, die es zuerst zu spüren bekommen, wenn demokratische Strukturen schrittweise abgebaut, gar geschliffen werden?

Und: Was ist der Beitrag von Dokumentarfilmschaffenden, wenn es schlicht darum geht, die Konflikte dieser Welt zu verstehen?

DOKVILLE 2026: Für den demokratischen Diskurs

Der Branchentreff DOKVILLE 2026 sucht hierzu den Diskurs, die kritische Debatte, sucht Rede und Widerrede. DOKVILLE versteht sich als ein demokratisches Format, bei dem unterschiedliche Standpunkte ihren Stand haben dürfen und ebenso befragt und verworfen werden können. Ohne Druck, doch in Vitalität als ein Nachdenken und Sprechen über den Fortbestand der Demokratie.

Anders ausgedrückt: Der Satz von Dieter von Holtzbrinck „Ohne informierte Bürger:innen keine Demokratie“ gilt auch für das Haus des Dokumentarfilms. Und wir wollen mit und für die Dokumentarfilmerinnen und Dokumentarfilmer Wege aufzeigen, sodass eine Bürgerschaft auf eine zeitgemäße und vertrauensvolle Weise, informiert wird, um so das Funktionieren der Demokratie sicher zu stellen.  

DOKVILLE findet am 18. & 19. Juni 2026 im Hospitalhof in Stuttgart statt.

Rückblick DOKVILLE 2025

RECHTSRUCK DEUTSCHLAND – DOKUMENTARISCHE POSITIONEN

Das Haus des Dokumentarfilms bedankt sich bei allen Panelgästen und Akkreditierten, die DOKVILLE 2025 besucht und zu einen spannenden Branchentreff gemacht haben.

Rund 450 Gäste widmeten sich zwei Tage lang dem Thema RECHTSRUCK DEUTSCHLAND – DOKUMENTARISCHE POSITIONEN.

Keynote-Speaker dieses Jahr waren der Publizist Michel Friedman, der stellvertretende Ministerpräsident von Baden-Württemberg Thomas Strobl, der Grünen-Politiker Cem Özdemir, der thüringische Verfassungsschutzpräsident Stephan J. Kramer, der ehemalige Verfassungsrichter und Ministerpräsident des Saarlandes Peter Müller und SWR-Intendant Kai Gniffke.

Special Guest des diesjährigen DOKVILLE war Campino – der Frontmann der „Toten Hosen“. Bei DOKVILLE 2025 diskutierte er mit BW-Innenminister Thomas Strobl und nahm an einer Case Study über die Doku „Jamel – Lauter Widerstand“ teil. Sie thematisiert den Widerstand gegen die Vereinnahmung des Dorfes Jamel in Mecklenburg-Vorpommern durch Neonazis.

Case Studies behandelten u. a. die Dokumentarfilme „Masterplan – Das Potsdamer Treffen und seine Folgen“, „World White Hate“, „Soundtrack to a Coup d’État“ und die Case Study „Das Nazi-Kartell“ über die Machenschaften des geflüchteten NS-Verbrechers Klaus Barbie in Südamerika.

Wir freuten uns außerordentlich, dass wir Filmschaffende wie Martina Priessner („Die Möllner Briefe“), Johan Grimonprez („Soundtrack to a Coup d’Etat“, für den OSCAR 2025 nominiert), Volker Heise („Masterplan – Das Potsdamer Treffen und seine Folgen“), Marcin Wierzchowski („Das Deutsche Volk“) und Dirk Laabs („World White Hate“) begrüßen durften.

Als Medienvertreter:innen nahmen u. a. teil Natalie Müller-Elmau (Senderchefin 3sat / Leiterin Bereich Genre- und Channelmanagement Direktion Audience, ZDF), Kamila Schmid (Director Original Production Non Scripted, Sky Deutschland), Ingmar Cario (stellv. WDR-Programmdirektor / ARD-Koordinator Dokumentation), Ann-Katrin Müller (Journalistin, DER SPIEGEL), David Gebhard (Hauptstadtkorrespondent ZDF), Patrick Gensing (Lt. Medien & Kommunikation FC St. Pauli), Martin Schmidt (Hauptstadtkorrespondent RTL) und Justus von Daniels (Chefredakteur CORRECTIV).

Darüber hinaus konnten Filmschaffende beim Pitch-Format „Speed-Dating“ Fernsehredaktionen neue Projekte vorstellen. Außerdem gab es im Rahmen von DOKVILLE 2025 einen Werkstattbesuch bei der Produktionsfirma/Künstlerinnengruppe Böller und Brot sowie exklusive Previews der Kinofilme „Friendly Fire“ und „Die Möllner Briefe“.

DOKVILLE Fotogalerien

Hier finden Sie eine Auswahl der schönsten Fotos sowie Nachberichte zu den Panels, Keynotes und Case Studies.
Alle Fotos © Lonnie Wimmer/Haus des Dokumentarfilms, sofern nicht anders angegeben.

DOKVILLE Tag 1

DOKVILLE Tag 2

Beiträge zu DOKVILLE 2025

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