Femizide sind kein Bagatelldelikt
In mehreren Folgen widmet sich die Doku-Serie „Sie musste sterben“ verschiedenen Fällen von Femiziden. Die Reihe wird von Lona • media in Koproduktion mit SWR und NDR für die ARD Mediathek produziert. In der Case Study zu „Sie musste sterben” bei DOKVILLE 2022 wird deutlich, dass Femizide ernst genommen werden müssen, damit sie stärker in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung rücken. Die Doku-Serie hebt sich durch einen betont nüchternen Erzählstil von anderen True Crime-Formaten ab.
„Frauen müssen abwägen, ob sie nachts allein Heim gehen. Männer nicht“, bringt Moderatorin Angelika Knop, Online-Journalistin und Cross-Media-Autorin, das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern auf den Punkt. Das Gleiche gilt im schlimmsten Falle dafür, ob man sich von seinem Partner trennt, denn Gründe wie Eifersucht, Besitzdenken und Kontrollsucht können zu Mordmotiven werden. „Leider versagt das Justizsystem zu häufig. Es gibt einen Ermittler, der sagt: ‚Wenn ein Vernichtungswille da ist, kann keine Gesellschaft die Menschen am Ende des Tages beschützen‘“, so Nicola Graef, Regisseurin und Geschäftsführerin von Lona • media, bei DOKVILLE. Häufig wird in der medialen Berichterstattung auf verharmlosende Begriffe wie Beziehungsdrama oder -tat zurückgegriffen. Das Wort Femizid hingegen macht deutlich, dass es sich bei Frauenmorden um ein systemisches Problem handelt.
Stereotype vermeiden
Nicola Graef ist routiniert im Umgang mit Frauenthemen. Durch die Kooperation mit den öffentlich-rechtlichen Sendern erhofft Lona • media sich einen breiteren gesellschaftspolitischen und juristischen Diskurs. Im Umkehrschluss machte die Produktionsfirma es sich zur Aufgabe, das ubiquitäre Vorkommen von Femiziden auch in der Serie abzubilden: „Nach aufwendigen Recherchen haben wir letztendlich vier sehr aussagekräftige Fälle gefunden, in denen alle gesellschaftlichen Klassen sowie und Bildungs- und Herkunftshintergründe vertreten sind”, beschreibt Graef die Auswahlkriterien ihres Teams.
Hürden bei der Recherche
Da neben dem Abbilden verschiedener Milieus auch das multiperspektivische Erzählen ein zentraler Bestandteil von „Sie musste sterben“ sein sollte, führte kein Weg an der Staatsanwaltschaft vorbei, erinnert sich Lena Scheidgen (Regisseurin; Lona • media): „Deren erste Reaktion war aber häufig: Oh nein, nicht schon wieder ein True Crime Fall! Die Institutionen werden momentan mit solchen Anfragen überschüttet.“ Das Genre habe ein schlechtes Image, weil oft die Täterperspektive im Mittelpunkt steht und gleichzeitig auf einen reißerischen Erzählduktus zurückgegriffen wird. Auf diese Weise wird man den Opfern nicht gerecht. „Zu Beginn mussten wir viel Überzeugungsarbeit dahingehend leisten, dass wir einen gesellschaftskritischen Anspruch haben und nicht nur auf Sensationalismus aus sind. Uns war immer klar, dass wir diesem multiperspektivischen Anspruch nur genügen konnten, wenn wirklich alle am Fall Beteiligten mit im Boot sind. Ansonsten war das Projekt für uns gestorben“, erinnert sich Scheidgen weiter. Gudrun Hanke El-Ghomri, Arte-Beauftragte beim SWR, bestätigt das:
„Unsere Geduld wurde mehrfach auf eine harte Probe gestellt. Manchmal tat es mir Leid, wenn schon wieder ein Fall geplatzt war, weil Protagonist:innen abgesprungen sind.“
Gudrun Hanke El-Ghomri
Die Opfer stehen im Fokus
Auf ein Eintauchen in die Psyche der Täter wird explizit verzichtet. Für Nicola Graef stellen die ermordeten Frauen den Fixpunkt der Doku-Serie dar: „Wie kann es sein, dass eine Frau ausgelöscht wird? Dass sie nicht mehr unter uns ist, nur weil ein Mann sich dazu entschieden hat, ihr das Leben zu nehmen? Und wer war dieser Mensch eigentlich?“ Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, wird das unmittelbar am Fall beteiligte Umfeld um eine Einschätzung gebeten. Alle Recherchen begannen dabei bei der ermittelnden Staatsanwaltschaft: „Das war immer unser heißer Draht. Das erleichterte es, Kontakte zu weiteren Ermittlern oder zu Nebenklageanwälten zu erhalten“, erzählt Nicola Graef bei DOKVILLE. Des Weiteren kommen Familienmitglieder sowie Personen aus dem engeren Bekanntenkreis zu Wort.
Gleichzeitig halten sich die Dokumentarfilmschaffenden mit Kommentaren zurück und auch die Bildsprache sollte nicht von den Schicksalen der Toten ablenken. „Von vornherein war klar, dass wir einen puren, nüchternen Ansatz für das visuelle Konzept wählen. Der Aspekt des Unterhaltens wird etwas zurückgestellt und auf die für das Genre üblichen Reenactments verzichten wir.“
Appell zu mehr Sensibilität
Für Nicola Graef sollen die formalen Kriterien deutlich machen, „dass wir mit der Serie noch andere Implikation verfolgt haben: was sagt das über unsere Gesellschaft aus, dass hier so etwas passieren kann? Warum gibt es diese Gewalt an Frauen und warum gibt es sie so oft?“.
Auf diese und weitere Fragen versucht die Doku-Serie „Sie musste sterben“ Antworten zu finden. Gleichzeitig hält sie uns alle dazu an, verstärkt auf Anzeichen für häusliche Gewalt in unserem Umfeld zu achten. „Sie musste sterben“ umfasst vier Folgen und wird voraussichtlich ab November in der ARD Mediathek abrufbar sein.
Case Study zur Doku Serie „Reeperbahn Special Unit 65“ bei DOKVILLE
In den 1970er Jahren geht die aufkommende Wirtschaftskrise nicht spurlos am Hamburger Rotlichtviertel St. Pauli vorbei. Gleichzeitig verunsichert die neue aufkommende Krankheit AIDS das Milieu. Daraufhin eskaliert ein Drogen- und Zuhälterkrieg dermaßen gewalttätig, dass das Polizeikommando “Fachdirektion 65” ins Leben gerufen wird.
„Archiv first“
„Wir hatten gerade noch über eine Serie gesprochen, die ganz bewusst auf Reenactments und Spielfilmszenen verzichtet. Hier spielen sie eine große Rolle und sind von ebensolcher Qualität“ eröffnet die Moderatorin Angelika Knop die letzte Case Study am zweiten DOKVILLE Tag. In der Doku-Serie „Reeperbahn Special Unit 65“ wird aus der Perspektive von ehemaligen Ermittler:innen und ihren Zielpersonen heraus beleuchtet, wie die Polizei systematisch den Kampf gegen das organisierte Verbrechen aufnimmt. Christian Beetz, Geschäftsführer und Produzent von Gebrueder Beetz Filmproduktion, macht deutlich, warum es sich bei diesem Produkt trotzdem nicht um ein Doku Drama handelt:
„Nur, wo wir keine Bilder haben, aber die Geschichte emotional über Charaktere erzählen wollen, arbeiten wir mit Spielfilmszenen. Sobald wir jedoch mit Archivmaterial arbeiten können, wird es wesentlich authentischer. So bewirken wir, dass die Zuschauer in der Zeit bleiben. Auch die heute circa 70 Jahre alten Protagonisten sollen ja wieder in ihre aktive Zeit abtauchen.“
Christian Beetz
Vertrauen hilft gegen wankelmütige Protagonist:innen
Bis es endlich soweit war, dass die Menschen vor der Kamera zu reden begannen, betrieb Ina Kessebohm, Autorin und Regisseurin, intensive Recherchen: „Ich musste mich langsam herantasten, sowohl an das ohnehin sehr medienskeptische Milieu als auch an die Polizeileute. Wir mussten die Menschen davon überzeugen, dass es uns nicht um Kiezromantik ging, sondern dass wir wirklich zeigen wollten, wie es damals war. Wenn man das Vertrauen aber einmal erlangt hat, wird man immer weitergereicht“, erzählt sie bei DOKVILLE 2022.
Die einen wollten nicht vor die Kamera und die anderen wollten das nur für Geld
Christian Beetz ist in diesem Fall nicht überrascht worden. Die ersten Sondierungsgespräche mit der ehemaligen Fachdirektion 65 gestalteten sich eher unterkühlt, da die jetzigen Rentner nicht viel preisgeben wollten. „Da hieß es dann: Drehen lassen wollen wir uns nicht. Wir wollen nicht mehr in so ein Projekt rein, dann kriegen wir nur Stress mit unseren Frauen und viele Dinge dürfen wir sowieso gar nicht verraten“, berichtet Christian Beetz.
Das Milieu lud das Rechercheteam hingegen von sich aus zu Treffen ein. „Da ging es dann relativ schnell um Geld“, so Beetz weiter. Ina Kessebohm verbuchte es trotzdem als Erfolg, eingeladen worden zu sein. „Ohne das Vertrauen hätten sie erst gar nicht über das Geld gesprochen. Sie hatten nicht das Gefühl, von uns gelinkt zu werden. Aber klar, am Ende geht es um Geld und da muss man dann abwägen“, erklärt sie.
Mit Seriosität und Augenhöhe punkten
„Seit die Streamer da sind und siebenstellige Summen zahlen, kommt das Thema Geld immer häufiger in unserer Branche vor. Das macht es uns unabhängigen Produzenten schwer. Da muss man dann mit anderen Dingen punkten, beispielsweise sind wir sehr seriös und arbeiten auf Augenhöhe mit unseren Protagonisten. Außerdem erzählen wir etwas aus deren Leben, was wahrscheinlich so noch nie erzählt worden ist“, führt Christian Beetz die Vorzüge der Zusammenarbeit mit dem öffentlich-rechtlichen NDR aus.
Marc Brasse, tätig im NDR Programmbereich Kultur und Dokumentation, zögerte nicht lange, als ihm das Projekt „Reeperbahn Special Unit 65“ vorgelegt wurde. „Mit Beträgen über den Kiez kann man einen ganzen Keller pflastern, aber was hier vorliegt, ist ein radikal anderer Ansatz. Die Geschichte dieser an sich im Kern völlig unbekannten Fachdirektion 65 komplett aus deren Sichtweise zu erzählen, erschien uns sowohl inhaltlich als auch dramaturgisch sehr spannend.“
Im Spannungsfeld der 80er Jahre
„Fünf Folgen á 45 Minuten ermöglichen uns das Ausbreiten von interessanten Seitensträngen. Wir interviewen zum Beispiel die ersten weiblichen Polizistinnen, die Dienst an der Waffe leisten durften oder die in den gehobenen Dienst aufgenommen wurden. Damals vollzog sich eine Zeitenwende, die man ein bisschen national und international einbetten muss“, erklärt Christian Beetz die Vorzüge des seriellen Formats. Zudem wird auf die langsam bröckelnden Geschlechterhierarchien eingegangen und im Zuge dessen die Rolle der Frauen hinterfragt: „Ihnen wird aus unterschiedlichen Blickrichtungen, sprich sowohl polizeiintern als auch aus dem Milieu heraus, eine ganze Folge gewidmet. Allerdings muss man sagen, dass beide Bereiche quasi komplett männlich dominiert waren“, so Ina Kessebohm bei der Case Study.
In ihren Augen liegt das Interessante für ein jüngeres Publikum eher im größeren zeitgeschichtlichen Kontext. Über das Milieu und die Fachdirektion hinaus wird auf politische Veränderungen, Punk und AIDS eingegangen. Marc Brasse ergänzt, dass für die ältere Generation eine ganz besondere Form der Erinnerungskultur entstehe. „Viele kennen die Läden, die in der Serie vorkommen, noch aus ihrer eigenen Zeit auf dem Kiez. Heute staunen sie dann, was damals alles dort abgegangen ist“, erklärt Marc Brasse.
Archiv als Koproduzent
Tania Reichert-Facilides sitzt als Geschäftsführerin von Studio Hamburg Enterprises „auf einem Schatz“, bringt es die Moderatorin Angelika Knop auf den Punkt. Das NDR-Tochterunternehmen trug einen wesentlichen Teil zum finalen Look von „Reeperbahn Special Unit 65“ bei: „Wir vermarkten das Archiv der Tagesschau und konnten darum diese Originalbilder der Reeperbahn zu dieser Produktion beisteuern. Diese Kombination von prozentischem Können und Kreativität im Umgang mit dem Material hat zu einer unvergleichlichen Authentizität geführt.“
Studio Hamburg ist auch für den internationalen Vertrieb zuständig, denn die Serie soll in den USA laufen. „Die Organisierte Kriminalität ist ein weltweites Phänomen und das macht es für uns interessant. Ausgehend von illegalem Glücksspiel über Prostitution bis hin zu Drogen entwickelte sich Stück für Stück ein global agierendes Netzwerk. Das ist für ein internationales Publikum sehr gut nachvollziehbar“, so Tania Reichert-Facilides.
Schon jetzt erfolgreich
„Reeperbahn Special Unit 65“ ist vielleicht der Prototyp einer neuen Seriengeneration: Die Serie ging kürzlich als Gewinner um den Preis für die beste Doku-Serie aus dem TV Series Festival Berlin 2022 hervor. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, dass die 1970er und 80er Jahre niemals derart lebendig umgesetzt worden seien. Tania Reichert-Facilides ist ebenfalls überzeugt von dem Produkt: „Eine zweite Staffel befindet sich bereits in Anbahnung und wird voraussichtlich in den nächsten zwölf Monaten umgesetzt.“