In seiner Keynote zeichnet Dr. Till Grahl, der wissenschaftlich-künstlerische Leiter des Deutschen Instituts Animationsfilm (DIAF) in Dresden die Chancen der Animation als Genre für den Dokumentarfilm nach. Er eröffnete damit den Branchentreff 2019.
Vergangenheit und Zukunft der Animation in einer Institution
Das DIAF verwahrt das Erbe des, von 1955 bis 1990 in Dresden beheimateten, DEFA-Studios für Trickfilme und zählt heute zu einer der größten Sammlungen von Produktionsmaterialien aus dem Animationsbereich. Zusätzlich setzen variierende Ausstellungen des Instituts ausgewählte Archivmaterialen in Szene, wie zum Beispiel die bis Ende März 2020 laufende Ausstellung »Der Sandmann und Sachsen – 60 Jahre Fernsehstar«. Dass die Animation eine weitzurückreichende Geschichte hat, macht Grahl bereits von Beginn an klar. Doch auch gegenwärtig zeichnet sich in vielen dokumentarischen Formaten eine vermehrte Verwendung animierter Sequenzen im Film ab: kurz »Animadok«.
Kunst als Abbildung von Realität?
Zunächst scheine die Verwendung von animiertem Material in Dokumentarfilmen konträr zu sein (Realität vs. Kunst), so Till Grahl, allerdings ist sie auf den zweiten Blick eine tolle und manchmal zwingend notwendige Ergänzung. Die sehr subjektive und kreative Form der Animation bietet mehr Perspektiven für den Dokumentarfilm, schafft einen größeren Sinnzusammenhang. Auf neuen Bedeutungsebenen können Bilder abgebildet werden, die so nie zusehen waren. Die Grenzen des Dokumentarischen werden neu ausgelotet und lassen den Zuschauenden freie Interpretationsmöglichkeiten. Gleichzeitig können Distanz, Privatsphäre und Schutz bewahrt werden.
»Animadok«: selbstverständlich subjektiv
Animation und Dokumentarfilme geben nie eine rein objektive Abbildung der Realität wieder. Aber was Animation im Dokumentarfilm leisten kann, ist die Möglichkeit aufzuzeigen, dass archivisches Filmmaterial oft die Realität verfälscht und durch Animation teilweise wirklichkeitsgetreuer abgebildet werden kann. Einzig muss sie dem Zuschauenden diese Subjektivität bewusst vermitteln. So ist Animation nicht bloße Fantasie, sondern kann in Verbindung zu Dokumentarischem auch komplexere Inhalte nachzeichnen. Sie kann Identifikation erleichtern, das Publikum dokumentarisch unterhalten und faszinieren, Empathie erzeugen und bleibt als gezeichnete Geschichte im Gedächtnis.
Unzeigbares wird zeigbar gemacht
Die Animation im Dokumentarfilm »kann immer dann einspringen, wenn es etwas zu zeigen gilt, was eigentlich unzeigbar ist«. Fehlendes Archivmaterial kann ersetzt werden, Unverfügbares verfügbar gemacht, Audioaufnahmen bebildert, zerstörtes Material wiederaufgelebt, für Zuschauende Ungeeignetes überspielt oder auch als Erklärung verschiedener Sachverhalte genutzt werden. Darüber hinaus kann es Gewalt entschärfen, Sex ent-erotisieren, Motive abmildern oder Innenwelten abbilden, deren Projektion dokumentarisches Bild nie schaffen würde. – Hohes Potential also.
Drei Perspektiven des »Animadok«
Deutlich geworden ist: die Animation kann den Dokumentarfilm vielfach bereichern, ihre Möglichkeiten »scheinen hier schier unendlich«. Das Besondere an ihr fasst Till Grahl in der Verschränkung folgender drei Perspektiven zusammen, die sie einnehmen kann: der des objektiv Gesehenen und Geschehenen, der des subjektiv Erlebten und der des kollektiv Erinnerten. Und in all ihren Facetten gilt immer: weniger ist mehr. Die Animation darf nicht in das Comichafte verfallen, sondern muss mit der Auswahl der richtigen Technik an den Film und seine Botschaft angepasst werden.
(Annika Weißhaar | Astrid Beyer)