Porträt Nadja Tennstedt, DOK Leipzig (Foto: Anna Rozkosny)

Interview mit Nadja Tennstedt, DOK Leipzig: Es gibt noch viel zu tun

Nadja Tennstedt leitet ab sofort den Branchenbereich von DOK Leipzig. Sie folgt auf Brigid O’Shea. Im Interview mit Elisa Reznicek spricht sie über den Weg zu mehr Diversität und Vielstimmigkeit im Dokfilm, zielgerichtete Vernetzungsformate und das Potenzial inklusiver Hybrid-Events.

Elisa Reznicek, Haus des Dokumentarfilms: Sie bringen langjährige Expertise mit, u. a. vom DocSalon, der Dokumentarfilmplattform des European Film Market (EFM) der Berlinale. Welche drei wesentlichen Erfahrungswerte erachten Sie als besonders wichtig und hilfreich für Ihre neuen Aufgaben bei DOK Industry in Leipzig?

Nadja Tennstedt, DOK Leipzig:
1) Durch die Arbeit für den EFM und auch für das Locarno Film Festival – bei beiden Organisationen war ich in unterschiedlichen Abteilungen und Positionen tätig – habe ich ein gutes Grundverständnis von der Organisation von Festivals und Märkten gewonnen. In und mit der internationalen Dokumentarfilmbranche zu arbeiten, empfinde ich dabei als ein echtes Privileg. Es herrscht hier ein besonderer Zusammenhalt, ein Miteinander, das ich sehr schätze.

2) Für mich bedeuteten die letzten 14 Monate eine riesige Lernkurve – für uns alle war und ist diese Zeit unter Corona außergewöhnlich und herausfordernd. Die Geschwindigkeit, mit der sich ab März 2020 Festivals, und allen voran Dokumentarfilmfestivals, auf die neuen Umstände eingestellt und ihre Events erfolgreich umgestellt haben, hat mich beeindruckt. Der EFM hatte fast ein Jahr lang Vorlauf, und wir konnten uns auf (Online-)Events umschauen und mit Kolleg:innen anderer Märkte und Festivals über deren Erfahrungen austauschen. Diese Zeit habe ich für die Umsetzung des EFMs als einen Crashkurs in digitaler Eventorganisation erlebt. Das war anstrengend und sehr spannend.

3) Eine sehr schöne und wichtige Erfahrung der letzten zwei Jahre war es, zusammen mit Themba Bhebhe (EFM Diversity & Inclusion) das „EFM DocSalon Toolbox Programme“ zu konzipieren und gemeinsam zu organisieren. Das vom Goethe-Institut unterstützte Programm hat zum Ziel, internationalen Kreativen aus marginalisierten Gruppen und aus dem globalen Süden mithilfe von maßgeschneiderten Modulen, Consultations und Workshops den Einstieg in den internationalen Filmmarkt zu erleichtern. In der (Dok-)Filmbranche passiert sehr viel durch die Netzwerke, in denen wir uns bewegen. Daher sind die wichtigsten Ziele der DocSalon Toolbox, diese Netzwerke für Toolbox-Teilnehmer:innen einfacher zugänglich zu machen und ihnen das Werkzeug an die Hand zu geben, sie gut für sich und ihre Projekte zu nutzen. Damit trägt die DocSalon Toolbox dazu bei, dass sich die internationalen Teilnehmer:innen untereinander vernetzen und sich über das Programm hinaus austauschen und unterstützen können.

In der Pressemeldung zu Ihrem Start beim DOK Leipzig werden Sie mit dem starken Satz zitiert: „Wichtig sind mir […] besonders der Fokus auf die Teilhabe von Kreativen aus unterrepräsentierten Gruppen und das Infragestellen von in der Dokumentarfilmbranche existierenden Machtstrukturen.“ Wie können die dafür notwendigen Impulse aussehen und warum sind Sie Ihrer Meinung nach unabdingbar?

Um das Format nicht zu sprengen, beantworte ich Ihre Frage zu diesem hoch komplexen Thema sehr fragmentarisch. Wir müssen zu einem Status Quo gelangen, in dem die Forderung zur Teilhabe von Kreativen und Professionellen aus unterrepräsentierten und marginalisierten Gruppen nicht mehr notwendig ist, weil sie eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Klar ist, dass es auf ganz vielen Ebenen noch sehr viel zu tun gibt, bis wir an diesem Punkt angelangt sind. Die Teams von Festivals und Märkten, Sendern, Förderern etc. müssen divers(er) aufgestellt werden. Als zukunftsorientierte (Kultur-)Institutionen sind wir auf möglichst viele Perspektiven angewiesen, und diese ergeben sich u. a. aus einem diversen und vielstimmigen Team.

Organisationen bemühen sich bereits darum, marginalisierten Personen den Zugang zu erleichtern. Allerdings hilft es nicht allein, dass in Stellenangeboten der Wunsch nach Diversität und Vielstimmigkeit geäußert wird. Vielmehr müssen sich Organisationen aktiv für Bewerbungen von marginalisierten Personen einsetzen und mit Hilfe von Berater:innen und Vermittler:innen gezielten Outreach betreiben. Die Branche braucht mehr Angebote und Programme, die Kreative aus dem globalen Süden und aus marginalisierten Gruppen in ihrer Arbeit unterstützen und im internationalen Markt fördern. Dabei ist es wichtig, nicht in etablierte koloniale Strukturen und Muster zurückzufallen, sondern Programme zu entwickeln, die eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe ermöglichen und solidarische Koalitionen und Kollaborationen anbahnen.  

Auch aus Marktsicht ist es notwendig, dass das (Dok-)Filmangebot verstärkt mit Inhalten von diversen Kreativen bestückt ist. Diverse Filmemacher:innen kreieren Inhalte und erzählen Geschichten aus neuen Blickwinkeln, die u. a. andere Zuschauersegmente ansprechen und so zu einer Erweiterung des Marktes beitragen. DOK Industry hat schon seit Jahren, mit Brigid O’Shea in der Leitung, viel und passioniert zu dem Thema gearbeitet. Mit Wortveranstaltungen – zum Beispiel einer Podcast-Serie, die im letzten Jahr in Partnerschaft mit POC2 Programmers of Color Collective und What’s up with Docs entstand – und gezielten Kollaborationen mit Organisationen von Kreativen und für Kreative aus marginalisierten Gruppen und dem globalen Süden, trug DOK Industry zur Diskussion bei. Darauf möchte ich sowohl in der Gestaltung der Branchenangebote als auch in der Zusammenarbeit mit Organisationen, Gruppen und Partnern aufbauen.

Corona hat u. a. die Art und Weise der Kommunikation und des beruflichen Netzwerkens verändert. Festivals sind mehrheitlich hybrid oder rein digital aufgestellt, persönliche Begegnungen finden meist dezentral im virtuellen Raum statt. Wie lässt sich dieser Wandel für die Branche nutzen?

Auch wenn wir uns nach physischen Begegnungen sehnen, werden uns Online-Komponenten weiterhin begleiten. Darin steckt viel Potenzial. Mit digitalen Veranstaltungen können wir einen weitaus größeren Personenkreis erreichen und sowohl Teilnehmer:innen als auch Mitwirkende gewinnen, die aus den unterschiedlichsten Gründen noch nie an dem physischen Event teilgenommen haben. Darin steckt auch die Chance für inklusivere Events als es rein physische Festivals je waren. Die zielgerichteten Vernetzungsformate, also One-on-One Meetings, Roundtables etc. funktionieren im digitalen Raum wunderbar. Ich bin jetzt sehr gespannt darauf, wie sich Festivals und Märkte hybrid weiterentwickeln werden.

Gibt es schon konkrete Ideen oder Projekte für Leipzig, von denen Sie berichten können?

Zu konkreten Ideen und Projekten kann ich jetzt noch nichts berichten. Ich nehme mir noch die Zeit anzukommen, zu entdecken und mich mit meinen Kolleg:innen intensiv auszutauschen. Das ist ein verheißungsvoller Anfang eines vielfältigen Weges.

Vielen Dank für das Interview, liebe Frau Tennstedt!

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