Case Study "Die wundersame Wandlung der Arbeiterklasse in Ausländer" FCase Study "Die wundersame Wandlung der Arbeiterklasse in Ausländer" Moderatorin Adrienne Braun (l.), Frédéric Hein (m.) und Samir (r.)

Intelligente Maschinen im Doku-Bereich

Regisseur Samir und 3D-Artist Frédéric Hein nutzen für ihr Projekt „Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer“ ein neues digitales Tool. Bei DOKVILLE 2023 erklären sie, welche Vorteile sich daraus ergeben.

Eigene Lebenserfahrung verwoben mit Geschichte der Schweiz

In seinem Dokumentarfilm „Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer“ verknüpft der Schweizer Produzent, Autor und Regisseur Samir (Dschoint Ventschr Filmproduktion) eigene Lebenserfahrungen mit der Geschichte seines Landes. Er selbst kam als Siebenjähriger als Flüchtling aus dem Irak in die Schweiz.

Seither beobachtet er das schwierige Verhältnis von Schweizer:innen gegenüber Zuwanderung: „Es hat eine  Verschärfung der Gesetzgebung stattgefunden. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz wird es sogenannten „Ausländern“ mittlerweile fast unmöglich gemacht, offiziell eingebürgert zu werden. Egal, wie lange man schon dort lebt“, so Samir im Gespräch mit Moderatorin Adrienne Braun.

Verschiebung der Klassenverhältnisse

Circa 40 Prozent der Schweizer Bewohner:innen weisen einen Migrationshintergrund auf. Dies rührt daher, dass ab den 1960er Jahren massiv Arbeitskräfte aus dem Süden Europas angeworben wurden. Diese hatten einen maßgeblichen Anteil am Wirtschaftswachstum des industrialisierten Nordens. Trotzdem werden sie häufig als Bürger:innen zweiter Klasse angesehen. Dieser Umstand hält bis heute an: Rassismus gehört zum Alltag vieler Schweizer:innen, deren Familienmitglieder nicht selten bereits vor drei bis vier Generationen in den Binnenstaat eingewandert sind.

Samir zeigt in seinem Dokumentarfilm „Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer“ auf, wie aus früher recht neutral verwendeten Begriffen abwertende Bezeichnungen werden. „In welchem Moment wird welches Wort in welchem Zusammenhang verwendet?“ fragt er bei DOKVILLE 2023 in die Runde. „Ursprünglich war „Ausländer“ ein normales Wort für ‚Du hast diese und ich hab‘ jene Papiere‘. Heutzutage ist “Ausländer“ fast ein Schimpfwort. Ich denke, „Arbeiter“ und „Ausländer“ werden mittlerweile synonym verwendet, weil die „Ausländer“ immer die billige Arbeit machen mussten. Mittlerweile gibt es zwar einen Gewerkschaftsführer mit migrantischen Wurzeln, aber wer die Zukunft verändern will, muss die Vergangenheit kennen.“

Unterstützung von einem Indie Game Studio 

Dieser Gemengelage und ihrer Folgen nimmt sich Samir mit dem sich noch in Produktion befindlichen Dokumentarfilm an. Unterstützung holte er sich dafür bei den Blindflug Studios in Zürich. Frédéric Hein ist dort Entwickler für dreidimensionale Räume im klassischen Games-Bereich. Gleichzeitig entwickelt er spielerische Konzepte für Marketingzwecke.

Als Samir ihn anfragte, war Hein überrascht von dessen Projektidee, mit einer Game Engine, also einem Werkzeug zur Spielherstellung, den Animationsteil eines Filmes zu machen. „Ausgehend von meiner Profession als 3D Artist hatte ich jedoch Lust, es auszuprobieren.“ Ziel war es, einen digitalen Avatar Samirs zu erstellen, der ihn in verschiedenen Stadien seines Lebens verkörpert – begonnen bei dem siebenjährigen Flüchtlingskind, das zum ersten Mal den Züricher Hauptbahnhof sieht und Schnee auf seiner Haut fühlt.

Hier geht’s zum Trailer

Digitaler Avatar statt konventioneller Animation

Vor vier Jahren realisierte Samir bereits die Animadok „Chris the Swiss“. Der Film war zwar überaus erfolgreich, doch da alles von Hand gezeichnet wurde, fielen extrem hohe Personalkosten und eine lange Produktionszeit an. „Das war eine interessante Erfahrung für mich“ so Samir. „Aber für meine jetzige Geschichte empfinde ich dieses Verfahren als unpassend, denn es war auch ein Stück weit frustrierendes Erlebnis. Besonders, weil es einen Mangel in Mimik und Motorik gibt.“

Neben überzeugenden Kosten- und Zeitfaktoren hebt Samir den hohen Perfektionsgrad in der Darstellung hervor, der durch das neue Verfahren erzielt werden kann. Zudem sieht er große Vorzüge in der digitalen Animation als Mittel der Abstraktion, des Exotisierens: „Das hat in Summe etwas ungeheuer Kontemplatives“, so Samir bei DOKVILLE 2023. Hein kann die Verfremdung in seiner Funktion als 3D-Artist verstärken: „Da wir in der Animation sind, können wir Objekte und Menschen im Raum frei bewegen und so Effekte erzielen, die mit realen Schauspielern so nicht umsetzbar gewesen wären.“

Filmstill Die Wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Auslaender
Filmstill Die Wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer

Artificial Intelligence (AI) trifft Dokumentarfilm

Frédéric Hein sah sich zu Beginn des Projekts der Aufgabe gegenüber, eine ganz neue Ästhetik entwickeln zu müssen: „Vor Samirs Film haben wir nur höchst stilisiert gearbeitet. Letztes Jahr kam eine neue Engine auf den Markt. Sie erlaubt uns, Menschen sehr realistisch aussehen zu lassen. Früher benötigte man dafür einen Monat. Dank Machine Learning, also selbstlernender Software, dauert es jetzt nur noch wenige Stunden. Wir haben erst im September begonnen und sind schon bald fertig. Das ist ein extrem kurzer Zeitraum.“

Neben seinem eigentlichen Beruf als 3D-Artist wirkt Frédéric Hein zum Beispiel auch als Schnittmeister, Kameramann und Ausstatter am Film „Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer“ mit. Alles Jobs, die bereits mittels Game Engine via Mausklick ausgeführt werden können.

Neue Formen der Animadok

Samir ist davon überzeugt, dass es in Zukunft zu einem Zusammenschluss von Film – und Games- Branche kommen wird. Moderatorin Adrienne Braun kann sich ebenfalls gut vorstellen, dass bei zukünftigen DOKVILLE Ausgaben über Veränderungen in der Filmbranche gesprochen wird, die von Intelligenten Maschinen ausgelöst werden.

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